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Wissenschaftlicher Hintergrund

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Wissenschaftlicher und theoretischer Hintergrund

Behandlungsprogramme für Sexualstraftäter

Face-to-face Behandlungen von Personen, die einen Kindesmissbrauch begangen haben, können einschlägige Rückfälligkeit verringern (z. B. Lösel & Schmucker, 2005). Die Effektivität der Behandlung ist jedoch von der Behandlungsform abhängig. Metaanalysen zeigen, dass Programme zur kognitiven Verhaltenstherapie bei der Behandlung von rückfallgefährdeten Sexualstraftätern am effektivsten sind (z. B. Lösel & Schmucker, 2005). Dies gilt insbesondere dann, wenn die Behandlung das RNR-Prinzip beachtet (Hanson et al., 2009). Das RNR-Prinzip orientiert sich an den drei Prinzipien: Risiko, Bedürfnis und Ansprechbarkeit (Risk-Need-Responsivity; Andrews & Bonta, 2007) und hat als primäres Ziel die Rückfallprävention (Laws, Hudson & Ward, 2000). Hierbei wird angenommen, dass therapeutische Behandlungsmaßnahmen besonders effektiv sind, (1) wenn die Behandlung auf Patienten fokussiert, die eine mittlere bis hohe Rückfallgefährdung aufweisen (Risikoprinzip), (2) wenn die Risikovariablen behandelt werden, die am stärksten mit Rückfallgefährdung zusammenhängen (Bedürfnisprinzip) und (3) wenn die Behandlungsmaßnahmen den jeweiligen kognitiven Kompetenzen und Lernstilen der Patienten angepasst werden (Ansprechbarkeitsprinzip). Die Anwendung dieser Prinzipien im Rahmen einer kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung zeigt sich bisher als am häufigsten eingesetzte und effektivste Behandlungsmaßnahme für Menschen, die Sexualstraftaten begangen haben (Yates, Prescott & Ward, 2010; Lösel & Schmucker, 2005).

Nach dem Risikoprinzip ist die Risikobewertung während des Behandlungsprozesses regelmäßig zu aktualisieren (Andrews & Bonta, 2010). Sie basiert auf statistischen und dynamischen Risikobewertungsinstrumenten (z. B. Rettenberger & Franqué, 2013), denn neben der Bewertung des allgemeinen Rückfallrisikos müssen auch die tatsächlichen Lebensumstände des Täters in den Blick genommen werden. Die statischen und stabil-dynamischen Risikofaktoren müssen durch eine Fokussierung auf akut-dynamische Risikofaktoren ergänzt werden (Hanson, Harris, Scott & Helmus, 2007). Jüngste Behandlungskonzepte konzentrieren sich daher auf empirisch belegte Risikofaktoren (Mann, Hanson & Thornton, 2010).

Diese empirisch belegten Risikofaktoren sind zudem relevant für den zweiten Aspekt von RNR: das Bedürfnisprinzip. Viele der herkömmlichen Behandlungsprogramme richten sich insbesondere nicht am Prinzip des Bedürfnisses aus. Das bedeutet, dass häufig Risikovariablen adressiert werden, die nicht nachgewiesenermaßen mit der Rückfallgefährdung zusammenhängen. Risikovariablen, die mit der Wahrscheinlichkeit eines (erneuten) sexuellen Übergriffes zusammenhängen und bei der Entwicklung zukünftiger Behandlungsprogramme berücksichtigt werden sollten, wurden in einer Metaanalyse ermittelt und stellen die Grundlage für das in »@myTabu« entwickelte Interventionsprogramm dar (Mann, Hanson, & Thornton, 2010).

Neuere, jedoch noch nicht ausreichend untersuchte und daher auch in den oben genannten Metaanalysen noch nicht berücksichtigte Therapiekonzepte heben die Bedeutung positiver Aspekte eines straffreien Lebens hervor. So verfolgt beispielsweise das „Good-Live“-Modell (GLM, Ward & Steward, 2003) keinen rein rückfallpräventiven Ansatz sondern stellt Annäherungsziele in den Fokus. Auch diese neueren Konzepte werden in das Interventionsprogramm von »@myTabu« integriert. Weiterführende inhaltliche Informationen erhalten Sie im therapeutischen Konzept (Bauer, Schröder, Tozdan, Müller & Fromberger, 2021) und genauere Informationen zum wissenschaftlichen Design im Study Protocol (Fromberger et al., 2021).

Internetbasierte Interventionen

Eine Möglichkeit viele Personen therapeutisch anzusprechen sind Online-Interventionen. Im Bereich der allgemeinen klinischen Psychologie hat es innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte über 100 randomisierte Kontrollstudien zur Überprüfung internetbasierter Interventionen gegeben. Dabei zeigten sich moderate bis sehr starke Effektstärken. Hedman, Ljótsson und Lindefors (2012) untersuchten in einer Metaanalyse internetbasierte kognitive Verhaltenstherapien für verschiedene Störungsbilder und berichten Effektstärken zwischen 0.38 und 2.27 bei Depressionen, 0.62 und 2.92 bei Panikstörung, 0.6 und 1.53 bei sozialer Phobie und 0.89 und 1.69 bei posttraumatischer Belastungsstörung. Ähnliche Effektstärken zeigten sich unter anderem für die internetbasierte Behandlung von generalisierter Angststörung, Zwangsstörung und Arachnophobie. Bei diesen Online-Therapien zeigte sich, dass insbesondere kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Therapien mit therapeutischer Begleitung große Effektstärken aufweisen als jene, die unbegleitet waren (Andersson & Cuijpers, 2009; Spek et al., 2007).

Nicht nur bezogen auf den Therapieerfolg zeigen internetbasierte Therapien einen guten Erfolg, sondern auch im Hinblick auf die Zufriedenheit von Patienten. Die meisten Patienten bewerten begleitete internetbasierte Interventionen als angenehm (87-88%) und persönlich (75-78%) und geben an, dass die therapeutische Beziehung im Verlauf der Therapie wächst (57-78%) und, dass die Mehrheit der Patienten den face-to-face Kontakt nicht misst (68-89%). Zudem zeigte sich, dass mehrere Kontaktformen (z.B. Chat und E-Mail-Kontakt) zu einer besseren therapeutischen Beziehung führten als nur eine Kontaktform und dass die Qualitätseinschätzung der therapeutischen Beziehung wie auch bei face-to-face Therapien mit dem Therapieerfolg korreliert.

Aufgrund der Tatsache, dass internetbasierte Therapien, die therapeutengestützt angeboten werden, bei den vielen untersuchten Störungsbildern zu einer Symptomminderung führen (Hedman et al., 2012), ist es möglich, dass sie auch in anderen Bereichen, wie zum Beispiel der Behandlung von potentiellen und realen Kindesmissbrauchstätern und Kinderpornografiekonsumenten, eingesetzt werden können. Das englischsprachige Präventionsprogramm „Stop it now! UK and Ireland“ (The Lucy Faithfull Foundation, 2017) ist ein erster Versuch. Es ist online verfügbar und richtet sich an Konsumenten kinderpornografischen Materials. Es handelt sich um ein Selbsthilfeprogramm, an dem Betroffene eigenständig teilnehmen können. Dies bedeutet, dass Patienten bei der Bearbeitung der Aufgaben nicht durch Therapeuten unterstützt werden; ferner sind derzeit noch keine Studien zur Wirksamkeit veröffentlicht. Es scheint jedoch fraglich, ob reine Selbsthilfeprogramme, die nicht durch Therapeuten begleitet werden, ebenso effektiv hinsichtlich der Reduktion wesentlicher Risikofaktoren sind, wie face-to-face Therapien oder Online-Interventionen, welche durch einen Therapeuten begleitet werden (Andersson & Cuijpers, 2009; Spek et al., 2007).

In Deutschland gibt es nach unserem aktuellen Wissen keine internetbasierten, therapeutengestützten Behandlungsprogramme für Hellfeldtäter (Wild, Fromberger et al., 2018). Das therapeutische Konzept von @myTabu können Sie hier nachlesen (Bauer et al., 2021).

Literatur

Andersson, G., & Cuijpers, P. (2009). Internet-based and other computerized psychological treatments for adult depression: a meta-analysis. Cognitive Behaviour Therapy, 38(4), 196-205.

Andrews, D. A. & Bonta, J. (2007). The risk-need-responsivity model of assessment and human service in prevention and corrections: Crime-prevention jurisprudence. The Canadian Journal of Criminology and Criminal Justice, 49, 439-464.

Bauer, L., Schröder, S., Tozdan, S., Müller, J. L. & Fromberger, P. (2021). @myTabu – Konzept einer Therapeuten-gestützten Online-Intervention für verurteilte Personen, die Kindesmissbrauch begangen oder Missbrauchsabbildungen konsumiert haben. Bewaehrungshilfe68, 5-22.

Fromberger, P., Schröder, S., Bauer, L., Siegel, B., Tozdan, S., Briken, P. et al. (2021). @myTabu—A Placebo Controlled Randomized Trial of a Guided Web-Based Intervention for Individuals Who Sexually Abused Children and Individuals Who Consumed Child Sexual Exploitation Material: A Clinical Study Protocol. Frontiers in Psychiatry, 11, 1-18. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2020.575464

Hanson, R. K., Bourgon, G., Helmus, L., & Hodgson, S. (2009). The principles of effective correctional treatment also apply to sexual offenders: A meta-analysis. Criminal Justice and Behavior, 36, 865-891.

Hanson, R. K., Harris, A. J., Scott, T. L., & Helmus, L. (2007). Assessing the risk of sexual offenders on community supervision: The Dynamic Supervision Project (Vol. 5, No. 6). Ottawa, Ontario: Public Safety Canada.

Hedman, E., Ljótsson, B., & Lindefors, N. (2012). Cognitive behavior therapy via the Internet: a systematic review of applications, clinical efficacy and cost–effectiveness. Expert Review of Pharmacoeconomics & Outcomes Research, 12(6), 745-764.

Laws, D. R., Hudson, S. M., & Ward, T. (2000). Remaking relapse prevention with sex offenders: A sourcebook (pp. 79-101). London: Sage Publications, Inc.

Lösel, F. & Schmucker, M. (2005). The effectiveness of treatment for sexual offenders: A comprehensive meta-analysis. Journal of Experimental Criminology, 1, 1-29.

Mann, R. E., Hanson, R. K., & Thornton, D. (2010). Assessing risk for sexual recidivism: Some proposals on the nature of psychologically meaningful risk factors. Sexual Abuse, 22(2), 191-217.

Rettenberger, M., & von Franqué, F. (2013). Handbuch kriminalprognostischer Verfahren. Hogrefe Verlag.

Spek, V., Cuijpers, P. I. M., Nyklíček, I., Riper, H., Keyzer, J., & Pop, V. (2007). Internet-based cognitive behaviour therapy for symptoms of depression and anxiety: a meta-analysis. Psychological Medicine, 37(3), 319-328.

The Lucy Faithful Foundation (2017). Stop it Now! UK and Ireland. Letzter Zugriff am 25.10.2019 über https://get-help.stopitnow.org.uk/

Ward, T. & Stewart, C. A. (2003). The treatment of sex offenders: Risk management and good lives. Professional Psychology, Research and Practice, 34, 353-360.

Wild, T. S., Fromberger, P., Jordan, K., Müller, I., & Müller, J. L. (2018). Web-Based Health Services in Forensic Psychiatry: A Review of the Use of the Internet in the Treatment of Child Sexual Abusers and Child Sexual Exploitation Material Offenders. Frontiers in Psychiatry, 9.

Yates, P. M., Prescott, D., & Ward, T. (2010). Applying the good lives and self-regulation models to sex offender treatment: A practical guide for clinicians. Brandon, Vermont: Safer Society Press.